
Das Buch Henoch – Eine umfassende Analyse der apokryphen Schrift
Das Buch Henoch gehört zu den sogenannten Pseudepigraphen und wurde im 1. Jahrhundert v. Chr. im Namen des alttestamentlichen Patriarchen Henoch verfasst. Diese außergewöhnliche Schrift bietet einzigartige Einblicke in die antike jüdische Mystik und Kosmologie.
Henoch – Der siebte Nachkomme Adams
Über Henoch, den siebten Nachkommen Adams, ist aus der Bibel folgendes bekannt:
Henoch lebte fünfundsechzig Jahre und zeugte Methusalah. Und Henoch wandelte vor Gott, nachdem er Methusalah gezeugt hatte, dreihundert Jahre und zeugte Söhne und Töchter. Alle Tage Henochs waren dreihundertfünfundsechzig Jahre. Und Henoch wandelte vor Gott; und er war nicht mehr da, denn Gott nahm ihn hinweg.
Dieses „nahm ihn hinweg“ führte zu Kommentaren, die behaupteten, dass Henoch (wie nach ihm der Prophet Elia) lebend in den Himmel entrückt wurde – entweder wegen außergewöhnlicher Rechtschaffenheit oder aus anderen Gründen.

Entstehung und Autorschaft des Buches Henoch
Das von einem unbekannten Autor (oder Autoren) verfasste Buch Henoch erzählt von Henochs Reise in den Himmel, wo er den Aufstand der Gottessöhne beobachtete, Bilder des kommenden Weltendes sah, die himmlische Mechanik verstand und die Zukunft der Söhne Israels sowie viele andere verborgene Geheimnisse erfuhr. Seine Visionen und Prophezeiungen bilden den Inhalt dieses Buches.
Das Buch Henoch galt in der frühchristlichen Welt zwar als nicht-kanonisch, aber als außerordentlich autoritativ. Der Autor des Judasbriefes zitiert es direkt, der Apostel Petrus gibt indirekte Hinweise darauf, und es wurde von Clemens von Alexandria, Origenes und Tertullian sowie dem Autor des nicht-kanonischen Barnabasbriefes (der sogar davon als Teil der Schrift sprach) referenziert.
Wiederentdeckung und Überlieferung
Nachdem der Kanon der Heiligen Schrift gebildet worden war, schwand die Autorität des Buches Henoch und sein Text ging verloren. Er wurde erst 1773 in äthiopischer Sprache (Amhara) wiederentdeckt – in einer doppelten Übersetzung aus dem Aramäischen oder Althebräischen über das Griechische, aber vollständig, was eine große Seltenheit darstellt.
Später wurden bei Ausgrabungen in Akhmim (Ägypten) zwei große Fragmente des griechischen Textes und in Qumran (Palästina) eine große Anzahl kurzer aramäischer Fragmente gefunden. Ihr Vergleich erlaubt es, den aus dem Äthiopischen übersetzten Text als authentisch zu betrachten.

Struktur und Gliederung des Buches Henoch
01
Mystische Reise Henochs
Die erste große Sektion beschreibt Henochs himmlische Visionen und Begegnungen mit den gefallenen Engeln.
02
Drei Gleichnisse Henochs
Prophetische Visionen über das kommende Gericht und den Menschensohn.
03
Über die himmlischen Lichter
Detaillierte astronomische und kalendarische Beobachtungen.
04
Zwei Visionen Henochs
Symbolische Darstellungen der Weltgeschichte und des
göttlichen Plans.
05
Belehrung der Kinder
Moralische und ethische Unterweisungen für zukünftige Generationen.

Die mystische Reise Henochs – Erste Visionen
Die Reise beginnt mit Henochs Segnungen für die Auserwählten und Gerechten, die am Tag der Bedrängnis leben werden, wenn alle Bösen und Gottlosen verworfen werden. Henoch beschreibt seine himmlischen Visionen:
„Seine Augen wurden von Gott geöffnet, und er sah heilige Visionen im Himmel: Die Engel zeigten sie ihm, und von ihnen hörte er alles und verstand, was er sah, aber nicht für dieses Geschlecht, sondern für ferne Geschlechter, die kommen werden.“
Der Aufstand der Wächter-Engel
Ein zentrales Thema des Buches ist der Aufstand der Wächter-Engel, die sich in die Töchter der Menschen verliebten:
- 200 Engel unter der Führung von Semjaza stiegen auf den Berg Hermon herab
- Sie schworen einen Eid und nahmen sich menschliche Frauen
- Aus diesen Verbindungen entstanden die Riesen (Nephilim)
- Die Engel lehrten den Menschen verbotenes Wissen
- Dies führte zu Gewalt und Korruption auf der Erde
Azazel lehrte die Menschen, Schwerter, Messer, Schilde und Panzer zu machen, sowie die Kunst der Kosmetik und Schmuckherstellung. Andere Engel lehrten Beschwörungen, Astrologie und andere verbotene Künste.
Das göttliche Gericht über die gefallenen Engel
Die Erzengel Michael, Gabriel, Suriel und Uriel sahen das Chaos auf der Erde und baten Gott um Gerechtigkeit. Gott befahl:
- Raphael sollte Azazel binden und in die Finsternis werfen
- Gabriel sollte die Nachkommen der Wächter vernichten
- Michael sollte Semjaza und seine Gefährten für 70 Generationen gefangen halten
- Die Erde sollte von aller Gewalt gereinigt werden

Henochs Rolle als Vermittler
Henoch wurde von den Wächtern beauftragt, für sie zu bitten, aber seine Mission scheiterte. In einer Vision sah er den himmlischen Thronraum:
„Ich sah einen anderen Palast, größer als der erste; alle seine Türen standen vor mir offen, und er war aus Feuerflammen erbaut. In allem war er so überreich an Herrlichkeit, Pracht und Größe, dass ich euch seine Herrlichkeit und Pracht nicht beschreiben kann.“
Gott teilte Henoch mit, dass die gefallenen Engel keine Vergebung erhalten würden, da sie ihre himmlische Natur aufgegeben hatten, um sich mit sterblichen Frauen zu verbinden.
Die drei Gleichnisse – Prophetische Visionen
Erstes Gleichnis
Über das Gericht der Sünder und die Offenbarung der Geheimnisse der Gerechten. Die Sünder werden von der Erde verbannt, während die Gerechten im Licht leben werden.
Zweites Gleichnis
Über den Menschensohn, der auf dem Thron der Herrlichkeit sitzen und Gericht halten wird. Die mächtigen Könige werden fallen, aber die Gerechten werden gerettet.
Drittes Gleichnis
Über die endgültige Auferstehung und das ewige Leben der Gerechten. Die Erde wird ihre Toten zurückgeben, und es wird ein neuer Himmel und eine neue Erde entstehen.
Der Menschensohn – Eine messianische Figur
Eine der bedeutendsten Figuren in den Gleichnissen ist der „Menschensohn“, eine messianische Gestalt:
- Er wurde vor der Schöpfung der Welt auserwählt und verborgen
- Er wird auf dem Thron der Herrlichkeit sitzen und Gericht halten
- Könige und Mächtige werden vor ihm fallen
- Er wird ein Licht für die Völker und Hoffnung für die Betrübten sein
- In ihm wohnt der Geist der Weisheit und Gerechtigkeit
Diese Darstellung des Menschensohns hatte großen Einfluss auf die spätere christliche Theologie und die Entwicklung der messianischen Erwartungen.
Astronomische Lehren – Das Buch der himmlischen Lichter
Ein bedeutender Teil des Buches Henoch widmet sich detaillierten astronomischen Beobachtungen. Henoch beschreibt:
Sonnenbewegungen
- 12 Tore im Osten und Westen
- Jahreszeitliche Wanderungen der Sonne
- Tageslängen-Variationen
- 364-Tage-Kalender
Mondbewegungen
- Mondphasen und -zyklen
- Verhältnis zum Sonnenjahr
- Kalendarische Berechnungen
- Himmlische Ordnung
Diese astronomischen Lehren spiegeln das fortgeschrittene Verständnis der antiken jüdischen Gelehrten für Himmelsmechanik wider und dienten praktischen kalendarischen Zwecken.
Die Windrichtungen und Naturphänomene

Henoch beschreibt detailliert die zwölf Tore an den Grenzen der Erde, aus denen die Winde hervorkommen. Vier dieser Tore bringen Segen und Wohlstand, während die anderen acht Winde des Unheils bringen. Diese kosmologische Ordnung zeigt das antike Verständnis der Naturkräfte als göttlich gelenkte Phänomene.
Die zwei Visionen Henochs – Symbolische Weltgeschichte
Die beiden großen Visionen Henochs präsentieren die Weltgeschichte in symbolischer Form:
Henoch sieht, wie der Himmel herabfällt und die Erde in einem großen Abgrund versinkt – ein Symbol für die kommende Sintflut und das göttliche Gericht.
Eine allegorische Darstellung der Geschichte von Adam bis zur messianischen Zeit, in der Menschen als verschiedene Tiere dargestellt werden – weiße Stiere, Schafe, Löwen und andere Kreaturen.
Belehrungen für zukünftige Generationen – Ethische Lehren
Im abschließenden Teil richtet sich Henoch an seine Nachkommen und alle zukünftigen Generationen mit wichtigen ethischen Belehrungen:
Aufruf zur Gerechtigkeit
„Liebt die Gerechtigkeit und wandelt in ihr. Nähert euch der Gerechtigkeit nicht mit zweierlei Herzen und gesellt euch nicht zu denen mit zweierlei Herzen.“
Warnung vor Ungerechtigkeit
Henoch warnt vor den Folgen der Sünde und prophezeit, dass Gewalt und Ungerechtigkeit von ihren Wurzeln getrennt werden.
Hoffnung für die Gerechten
Die Gerechten werden wie die Sterne des Himmels leuchten und ewiges Leben erhalten, während die Sünder dem Gericht verfallen.
Weisheit und Erkenntnis
Henoch betont die Bedeutung der Weisheit und ermutigt seine Nachkommen, die himmlischen Geheimnisse zu studieren und zu bewahren.
Diese Lehren bilden den ethischen Kern des Buches und zeigen die zeitlose Relevanz seiner spirituellen Botschaft für alle Generationen von Gläubigen.
